Präambel

Beim E-Mail checken vor dem Training, haben wir folgende Meldung dabei:

Interesse am Lauftraining

Guten Tag

Mein Name ist Banchu Madörin und ich wäre sehr daran interessiert, wieder mit dem Lauftraining zu beginnen. Ich war vor längerer Zeit beim LC Fortuna. Seit meinem Austritt trainiere ich für mich selber und nehme auch regelmässig an Strassenläufen teil. Nun würde ich aber gerne wieder intensiver trainieren, um mich voran zu bringen. Ich möchte aber an dieser Stelle erwähnen, dass ich eine relativ starke Seheinschränkung habe. Für das Training sowie in der allgemeinen Mobilität spielt es keine grosse Rolle, da ich sehr gut selbstsändig zurecht komme. Es geht mir viel mehr darum, meine Mitmenschen frühzeitig darüber aufzuklären, um Missverständnisse zu verhindern, und weil ich evtl. punktuell trotzdem Unterstützungsbedarf haben könnte. Wäre ein Schnuppertraining trotzdem möglich?

Liebe Grüsse – Banchu Madörin

Der Rest ist Geschichte

Die schreiben wir grad mal auf.

Banchu kam, sah und siegte. Gemeint ist, sie kam, sah ziemlich wenig und lief uns bald um die Ohren. Von Anfang bei der Musik dabei. Langsam laufen geht anders. Immer regelmässig beim Training. Nächster Schritt, ab auf die Longruns. Die nimmt sich was vor. Geht doch, denk ich.

Oben am 1000er-Stägeli

Sehvermögen: rechts 5 Prozent, links Null. Erst dachte ich, geht doch. Wo ich allerdings das erfuhr, schaute mein 100%iges, haarscharfes Sehvermögen aber sowas von saublöd aus der Wäschetrommel.

Punktueller Unterstützungsbedarf heisst, bei Dämmerung, oder bei Licht-Schattenverhältnissen unterwegs, musst Banchu ansagen, wenn Wurzeln, ein Stolperstein, ein Hindernis in der Geografie steht. Bist beim Laufen abwesend, vergisst sie zu warnen, stolpert sie. Oder sie fällt. Ansonsten, Konturen erkennt sie einigermassen und kann sich das Ausmass des dazu gehörenden Hindernisses ausmalen. Ist eine durchzogene Linie am Boden, kann sie nicht sicher sein, obs ein Trottoir-Rand, ein Absatz also, oder doch nur eine Linie und flach ist. Dementsprechend setzt sie den Schritt an, auf beide Fälle vorbereitet, um nicht ins Straucheln zu kommen, was auf die Dauer selbstnatürlich anstrengender ist.

Farben mit ähnlicher Leuchtkraft kann sie auf kurze Distanz nicht unterscheiden, genau so wenig ob die Ampel am Fussgängerstreifen vis-à-vis ein rotes Männlein oder ein grünes Fräulein anzeigt. Es liegt in der Natur der Sache, dass Schneeschuhlaufen bei Schnee abgehalten wird. In dem vielen Weiss verschwinden für Banchu alle Konturen. Geht’s hoch? Runter? Stufe oder abgeschrägt? Der Fuss kippt auf alle Seiten weg, die Muskulatur muss das ständig korrigieren, um den Körper aufrecht zu halten. An Mimik und Körpersprache siehst ihr an wie anstrengend es ist und was sie von mir hält – weil ich hatte die Idee dazu.

Aber sie sieht, lehrt mich Banchu. Einfach anders. Seit der Geburt kennt sie es nicht anders. Das Sehdefizit macht sie mit Scharfsinn wett. Es gibt Leute mit 100 Prozent Sehleistung, die haben grad mal 5 Prozent Hirnleistung. Der Diplomat würde sagen, die haben Pech beim Denken. Ich sag dazu, die sind dämlich, dumm oder doof – oder alles zusammen. Das Schlimme dabei ist, die betroffenen Doofen merken das in der Regel nicht. Dramatisch wirds bei den ganz dämlich, dumm und doofen, die glauben sogar noch sie seien klug. Der Volltrottelweltrekordhalter wurde sogar Präsident im Weissen Haus. Der hätte Zwilling sein müssen, den seine Blödheit reicht für zwei. Schlechtes Sehvermögen kannst mit Hilfsmitteln kompensieren. Bist dumm, kannst nichts gegen machen. Insofern hat Banchu gegenüber denen schon einen wesentlichen Vorteil. Und sie studiert an der Uni, eine Juristin wird sie.

Ein weiteres Beispiel blöd versus Banchu. Mit dem Tram #2 kommst zum Trainingsstandort Rankhof. Der Blöde weist Banchu den Weg zur Haltestelle.
Sie: «Hä?», widerspricht: «Nein. Da drüben müssen wir hin.»
Ja, wie jetzt, ich bin doch nicht blind: «Hier stehts doch: Tram #2»
Es war bereits zu spät, als ich merke, wie blind blöd macht. Denn Banchu ist mir bereits am erklären, dass der «2er» hier die falsche Endstation anpeilt, den Kronenplatz in Binningen nämlich. Zum Wettsteinplatz gehts da drüben. Banchu hat den Plan des Bahnhofplatzes im Kopf, ich passend zur Tramlinie, die Nummer 2 auf dem Rücken. Sie marschiert zum anderen Ende vom Bahnhofplatz, ich zottle kopfhängend hinterher.

Im Murg-Tal

Es wird aus meiner Perspektive noch viel peinlicher, als sie mich aufklärt. Sie erkennt die Information nicht, mit der über unseren Köpfen eine Leuchtschrift einer Anzeigetafel dieselbige welche beleuchtschriftet. Auch welche Nummer über dem Führerhaus vom Tram oder seitlich der Wagons steht, sieht sie nicht. Grosser Vorteil, im Gegensatz zu mir weiss sie wenigstens wo am Bahnhofplatz anstehen. Da angekommen macht sie ein Foto von der Abfahrtsanzeigeleuchtschrifttafelbeleuchtung. Das Bild vergrössert sie auf dem iPhone und erkennt, dass z.B. der übernächste Tramzug der ihrige ist und steigt dann ein.

(Sie nutzt diese Sehhilfe, die Vergrößerungsfunktion am iPhone und erklärt mir wie man sowas einrichtet, damit ichs selber auch bei mir einrichten kann, weil ich altersweitsichtig bin. Das heisst, ich sehe scharf in die Distanz, je näher, je weniger gut. Geht umgekehrt wahrscheins genau gleich. Aus der Ferne sehe ich scharf aus, je näher die Betrachterin kommt, desto verleidet es ihr. Jedenfalls, ich kann jetzt selber am iPhone vergrössern. Nutzt aber auch nichts, wenn nicht die richtige Abfahrtsrampe findest.)

Wenn nun in letzter Sekunde zwei Trams beim Einfahren umgekehrt der geplanten Reihenfolge einfädeln, dann steigt Banchu leider ins falsche Tram. Ihr entscheidender Vorteil dabei ist, sie hat ja eine gute Ausrede für dieses Missgeschick. Dagegen der Blöde ratlos an der Tramschlaufe am Kronenplatz in Binningen versucht eine Erklärung zu formulieren, wieso er da ankam.

Banchu? Ich bin ziemlich schnell beim Begreifen, ein Schnelldenker sozusagen, drum war sofort klar, dass mir nicht klar war, woher der Name stammt. Erst mal, was ist es? Frau, Mann? Aber sicher aus Ostasien. Portugal tät mich auch nicht überraschen. Das kann auch vom Rumänischen herkommen. Irgendwas was ich nicht kenne. Bulgarien? Eventuell Karibik oder doch aus Finnland?

Äthiopien wärs. Dann treff ich Banchu. Grosse Erleichterung, weil: Frau. Frau ist immer gut. Ich bin der Frauentyp. Nur für Männer schreiben wirs hier auf, denn Frauen merken das von allein. Kannst ja bei deiner zu Hause mal nachfragen. Nun, Frau, schwarz, behindert, das gibt gleich mannigfaltig grundlosen Grund für Benachteiligungen. Wir diskutieren viel darüber. Ich lerne viel dabei.

Sagt man schwarze Menschen? Farbige ist eher nicht angemessen. Ich weiss es nicht, Banchu auch nicht so richtig. Afroamerikanerin geht ja nicht weil Afroschweizerin, aber das Wort hat noch keiner erfunden. Korrekt wäre «people of colour». Anglizismen, ich will das nicht. Und «people of colour» heisst doch auch nichts anderes als «Farbige»? Aber Hauptsache englisch, auf Deutsch «Farbige» sollst nicht. Wie bescheuert ist das denn?

Hey, es gibt auch noch rote und gelbe Ethnien, nebst schwarzen. Und ich? Weiss ist meine Farbe. Und manchmal bin ich sogar blau. Alle sind wir «people of colour». Auch der Nazi, er ist ein Brauner. Und Schluss am End stammt der Nazi – wie wir alle anderen Farbigen – vom ersten Menschen ab und das war ein Afrikaner, ein ziemlich schwarzer. Der Nazi ist also nichts anderes als ein Farbiger, ein brauner Weisser mit schwarzen Wurzeln.

Banchu ist also schwarz, aber afrikanisch definitiv nicht. Weil sie kommt ja aus dem Oberbaselbiet. Sie spricht – im Gegensatz zum gewöhnungsbedürftigen Baseldeutsch, welches ein Grossteil der Mitglieder unseres Laufsport Verein Basel sprechen – den gleichen Dialekt wie ich, oberbaselbieter Dialekt. Leider mit einem kleinen Einschlag Bern-Deutsch von ihrer Mutter. Dafür gibts einen Abzug bei den Haltungsnoten.

Mal sagte einer das Wort Behinderung soll man nicht anwenden, Beeinträchtigung, das wäre angemessener. Gottverdammt, ich seh jetzt den Unterschied nicht wirklich. Nicht verzagen, Banchu fragen. Die muss das doch wissen. Darauf angesprochen, Banchu weiss es auch nicht. Ich gebe zu bedenken, sie hätte damals in die E-Mail auch nicht sehbehindert reingeschrieben. Unbewusst, sie hätte auch grad so gut sehbehindert aufschreiben gekonnt haben können, erwidert sie. Komischerweise sieht Banchu als Betroffene vieles gar nicht so, wie es die Fachspezialisten in Sachen «political correctness» meinen besser zu wissen. Ein paar pseudointellektuelle Akademiker, die nix zum Tun haben, denken sich ständig neue Probleme aus. Es gibt weiss Gott genügend davon auf dem Planeten, da brauchst keine weiteren dazu erfinden.

Mein Lieblingsbeitrag aus der Kampfsportart Gender-Diskussion geht in die gleiche Richtung. So eine Kuh mit Lehrstuhl an der Uni Zürich hat mal gesagt: «Äh, ja, nein, Fussgängerstreifen geht nicht, ist nicht Gender-konform, da maskulin. Zebrastreifen sei es zu nennen!». Als nächstes kommt dann wahrscheins der Tierschutzbeauftragte für Langnasenhirsche und teilt ungefragt mit, die Würde des Zebras werde dadurch verletzt. Immerhin mit «Kuh» haben wirs Gender-mässig bei dieser Professorin politisch korrekt getroffen.

Beim ersten Longrun hat Banchu schon leicht schlecht ausgesehen. Sie lief ja noch nie so weit. Wahrscheins hatte sie einen roten Kopf, aber man siehts halt bei ihr nicht. Wir anderen hatten jedenfalls zündrote Hutständer. Sie machte schnell viel Fortschritt beim Laufschritt. Ein Jahr später, da ist sie es, die uns nach zwei, drei Stunden das Tempo vorgibt. Natürlich lobe ich sie: «Früher hast gelitten, bei den langen Strecken. Heute lässt du mich leiden!»
Jaja, stellt sie fest, sie würde mir nun das heimzahlen, was ich ihr im ersten Trainingsjahr angetan hätte. Das war ein verbaler Tritt in Hintern auf afroschweizerisch.

Wir diskutieren oft. Sie stellt viele Fragen zum Marathon. Dabei kenn ich mich aus, mit Marathon. Und mit Frauen die fragen auch. Dabei brauchts Fingerspitzengefühl.
Zum Beispiel, frägt Frau: «Fällt dir was auf?»
Da gibts nur eine Antwort die zuträfe, ein klares: «Nein!»
Das sagen, das wäre jedoch wie Selbstmord mit einer ganz stumpfen Messerklinge. Besser: «Neuer Haarschnitt?»
Zu 95 % der Fälle hast Recht, bist raus aus der Nummer. Hast Pech, hat sie die neue Handtasche gemeint. Aber mit 5 % Fehlerquote, da bist ganz vorn in der Champions League der Männer dabei, die sich täglich, selbst- und furchtlos gegen das Knechtsein, unter dem grössten Joch der Jöcher, dem Joch der Frau – dem sogenannten Jungfraujoch – zu behaupten versuchen.

Also, wie nun Banchu zum Marathon anfängt Fragen zu stellen, wäre die korrekte Antwort ein klares: «Spinnst?». Läuft einer Marathon, dann hat er oder sie nicht alle Latten am Zaun. Ich weiss das doch. Aber ich erwidere anstandshalber mit Erfahrungswerten. Und sie, sie lässt nicht locker. Sie will mehr wissen. Sie will Marathon. Sie spinnt. Wir melden uns beim Jungfrau Marathon an.

Das heisst, noch mehr zusammen trainieren. Longruns abwetzen. Zusammen Zeit verbringen. Über Gott und die Welt philosophieren. Ich ärgere mich. Oft. 
«Dätti, warum regst du dich immer so auf? Du kannst es eh nicht ändern.» Hat sie schon Recht. Nur – ich will mich halt aufregen. Es ist gesund. Ich reg mich auf, um mich abzuregen.

Beim Metzerlen Chrütz

Apropos aufregen. Wo ich grad dieses Elaborat aufschreibe, erzählt eine im Radio, wer jemanden mit anderer Hautfarbe frägt, wo der oder die herkommen täte, sei unterschwellig rassistisch. Rat mal, was wollte ich von Banchu ziemlich bald mal wissen. Jetzt bin ich unter der Schwelle also ein Rassist.

An alle Zipfelgesichter denen bei der Klimaerwärmung der letzte Verstand, den sie nie besassen, verdampfte, folgendes: Wenn jetzt jemand daherkommt, nicht so spricht wie ich oder fremdländisch aussieht, dann nimmts mich Wunder, wo diese Person herstammt. Die Geschichte von denen interessiert mich. Egal welche Farbe die grad im Gesicht dabeihaben. In unserem Verein: Aurimas, ein Weisser, aus Litauen. Resah, hellbraun weil Perser, aus Iran. Adem, schwarz weil Eriträer. Amélie, spricht Hochdeutsch und nicht Badisch obwohl aus Freiburg. Diese Leute, sie interessieren mich.

Resah ist im LKW-Container hinter einer doppelten Wand vor dem iranischen Regime abgehauen. Adem auf dem Landweg mit dem Auto durch den Sudan, dann aufs Boot und übers Meer nach Sizilien. Asha aus Indien, wurde adoptiert, gemeinsam mit ihren drei jüngeren Schwestern. Asha wäre mit etwa zwölf Jahren zwangsverheiratet worden (mit zwölf!), damit die da im indischen Waisenheim wieder eine los geworden wären. Banchu auch adoptiert. Mit fünf Jahren kam sie in die Schweiz. Aus Äthiopien, mehr weiss sie nicht. Ihre Sehbehinderung? Möglicherweise eine Endzündung des Sehnervs. Ihr Alter: medizinisch bestimmt. Geburtsjahr 1996. Geburtsmonat durfte sie wählen: Juni. Geburtstag durfte Mami wählen. Der Elfte, weil Mamis Glückszahl. Und solche Geschichten lernst halt nur, wenn unterschwellig rassistisch nachfrägst.

Übrigens schön ihre Rasta-Zöpfe. Dazu wird Kunsthaar ins natürliche, krause Haar eingeflochten und verlängert, ums glatter wirken zu lassen. Einen ganzen Tag dauert das beim Friseur. Acht Stunden reichen bei mir drei lang Jahre für Coiffeur-Besuche. Eines Tages kam sie ohne Rasta-Look und neuer Haarpracht daher. Hab gleich ein Kompliment platziert und lief ins offene Messer. Denn, schon seit vier Wochen trage sie die Frisur so, erwidert sie charmant (s.o. «Fällt was auf?» «Neuer Haarschnitt?»).

Jedenfalls da, auf dem Flugplatz von Interlaken, da stehen wir nun am Start dieses Jungfrau Marathons parat. Banchu ist bei ihrem ersten Marathon, extrem nervös und aufgeregt wie Sau, weil unerfahren. Ganz im Gegensatz zu mir, bin äusserst erfahren, ein Routinier. Und trotzdem extrem nervös und aufgeregt wie Sau. Hey, ich bin immer, auch nach dem hundertviertelvorzwölfundzwanzigsten Marathon, vor dem Start nervös wie Sau. Erschwerend kommt dazu, sie ist mir läuferisch überlegen. Muss also irgendwie versuchen an ihrer Seite zu überleben, um bei Bedarf den Weg zu weisen, am Verpflegungsstand eine Cola oder doch lieber eine Bouillon zu finden.

Der Zieleinlauf schmeckte hinterher salzig, was nicht an der Bouillon lag, Freudentränen warens bei uns zwei beiden. Banchu war so glücklich, sie hät mich glatt heiraten wollen. Aber zum Glück war ich schnell wieder raus aus dieser Nummer, denn Nicola, ihr Freund nahm uns in der Bergstation Eigergletscher in Empfang.

Es war sooooo toll, teilt sie mit, nächstes Jahr solle ich sie gleich wieder begleiten. Und einen schnellen, flachen, grossen Stadtmarathon will sie – also wir – auch noch laufen. Wie gesagt, wer Marathon läuft fängt an zum Spinnen.

In diesem Sinne: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spinnen sie noch heute.

 

 

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