Die schönste Marathonstrecke der Welt ist, gemäss dem Veranstalter und dem „International Guide of Marathons“, der Jungfrau Marathon.
Die Schönste? Möglich.
Vom härtesten seiner Zunft liest man auf der Homepage des Graubünden Marathons. Nun, der Nordpol Marathon bei 20 Minusgraden ist kaum minder hart, oder Pikes Peak Marathon, da misst der Höhenmesser am Start 1918 Meter. Es geht hoch auf 4299 Meter und wieder zurück zum Ausgangspunkt.
Der grösste Ultra-Berglauf der Welt, das sagen die Davoser, sei der Swiss Alpine Marathon. Das stimmt jetzt definitiv nicht.
Am Ultra Trail du Tour du Mont-Blanc sind 8500 Höhenmeter auf 155 Kilometer verteilt. Das heisst, man kann den Swiss Alpine von der Länge her doppelt und von der Höhendifferenz gut dreimal hineinpacken.
Der Badwater Ultramarathon startet 84 Meter unter dem Meeresspiegel, im Juli im Tal des Todes, wo 40 Grad Celsius relativ frisch wären, denn 50 Grad sind da normal und er endet nach 217 Kilometern und 3400 Steigungsmetern.
Obenstehende Bewertungen sind nicht auf der objektiven Wirklichkeit aufgebaut, sondern auf subjektiver Anschauung einer Tatsache und die Anschauung einer Tatsache ist halt niemals mit der Tatsache selbst, sprich, der objektiven Wirklichkeit, gleichzusetzen. (Nach Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie, die den Hauptantrieb des menschlichen Handelns im Macht- und Geltungsbereich sieht.)
Was will uns das sagen?
Vielleicht, dass der Antrieb des Marathonläufers Handelns im Geltungsbereich zu suchen ist, weshalb sie schon mal ein wenig übertreiben, beim Kundtun ihrer Leistungen. Aber so richtig weiss ich es auch nicht. Vielleicht heisst es einfach nur, die Marathonläufer die spinnen.
Indiskutabel ist aber – will heissen, erhaben über jegliche, missgünstigen Assoziationen zu Geltungsgebärden – dass der «Marathon des Châteaux du Médoc» der längste Marathon der Welt ist.
Auf den 42 Kilometern führt die Strecke durch oder an 59 Châteaux, sowie 45 Musik-Bands und -Kapellen vorbei. Es gibt 21 Verpflegungsposten und dazu noch 22 Weindegustationen (für die Läufer – wohlgemerkt!).
Medoc1
Eben wegen den 22 Weinständen werden die 42195 offiziellen Marathonmeter – vor allem zum Schluss hin –, nicht mehr so effizient und zielgerichtet bewältigt. Hinterhältig unberechenbare, seitliche Ausfallschritte müssen die Läufer im Kampf gegen die Erdanziehungskraft in Kauf nehmen und so kommt es, dass des Läufers Parcours, diese und jene Ecken und Kanten zusätzlich aufweist, was die Distanz schwankenderweise vergrössert, denn schliesslich ist die kürzeste Verbindung zweier Punke eine Gerade und nicht eine getorkelte Kurvenlinie, was den „Marathon des Châteaux du Médoc“ (Bordeaux-Marathon) zum längsten der Welt werden lässt.
Medoc2Zwei die auszogen, um die Welt zu erobern.
Als es der Morgendämmerung dämmerte, dämmerte mir, dass ich mir äusserst saublöd vorkomme. Zurecht!
Wer so das Hotelzimmer verlässt, um Marathon zu laufen, kann nicht ganz frisch in der Birne sein.
Bei angekündigten 29 Grad im Schatten und hoher Luftfeuchtigkeit mit 2/3-Hose, Baumwoll-Shirt, Helm samt Perücke, reicht Gottvertrauen nicht mehr aus. Ein gewisses Quantum Spinnerei wird vorausgesetzt, um anzutreten.
Wenigstens hat sich die Wetterprognose geirrt: Es hatte keinen Schatten.
Der Reihe nach: Jeder Marathon beginnt bekanntlich tags zuvor mit der Pasta-Party was grundsätzlich in sämtlichen Lauferlebnisberichten ignoriert wird, weil es keine Sau interessiert, wie man in einer Turnhalle, nach dem Schlange stehen, mit einer Plastikgabel, die abzubrechen droht, klebrige Spaghettis vom Pappteller aufwickelt. Nicht so beim Médoc-Marathon.
Medoc3Das Pasta-Diner fand im Nebengebäude des Château Batailley [1]. statt, wo wir standesgemäss an weissgedeckten Tischen (Stoff!) dinierten.
Mit Silberbesteck (!) wurde das Dreigang-Pastamenü in die, mit hauseigenem „Château Batailley“ angefeuchteten Kehlen bugsiert.
Von Letzterem gab es bis zum Abwinken. Abwinken taten wir zwar ums Verrecken nicht, bis schliesslich die Reiseleitung abwinkte, weil man uns zurück zum Hotel fahren wollen glaubte zu müssen (Hmmpf!).
Medoc4Obwohl vor dem Start in Pauillac die Morgendämmerung weggedämmert war, dämmerte es bei mir schon wieder, wenn auch unterdessen zu meinen Gunsten.
Mir wurde nämlich bewusst, dass ich nicht mir, sonder die sich saublöd vorkommen mussten, die unkostümiert, die Mindestanforderung der Pappnase verkennend, zum Médoc-Marathon angetreten sind (s. Pfeil).
Wer hier kein Kostüm trägt, ist ein Fahnenflüchtiger, ein Verräter und wer im Vorjahr als 3-Stundenläufer einlief, wurde ausgebuht. Dem Sieger hilft darüber seine Prämie hinweg; sein Körpergewicht wird nämlich in Wein aufgewogen.
Medoc5Vor dem Start:
Zur Unterhaltung der Menge wurden fliegende Tambouren präsentiert, die uns, an einem Kran hängend, den Marsch trommelten.
Läufer soweit das Auge reicht.
8000 sind parat um loszusprinten. Unüblich für einen Massenstart: Es stank weder nach Dul-X, noch nach Schweiss vom Einlaufen.
Medoc6Endlich ist der Cortège [2] zwischen den Reben unterwegs …
Medoc7… und zieht durch die Parks der Châteaux
Bei der schwülen Hitze und mit der Verkleidung wird man durstig. Halb so schlimm; jedes Château produziert bekanntlich Traubensaft – und nicht zu wenig.
Dieser wird uns angeboten.
Medoc8Da lacht das Herz: fässerweise Wein für die Marathonis.
Mein Plan war mindestens 10 Kilometer durchzulaufen, bevor ich zu degustieren beginne, damit der grösste Läuferpulk hinter mir lag.
So geschehen bei K13. Meine erste Degustation.
Medoc9„Sapperlot!“, das tat gut und man sah es mir anscheinend an: „Vous êtes beau!“, bestätigte die Fee.
Wenn ich mich mit Rotwein hübschsaufen kann, dann bin ich mal gespannt, wie hübsch ich in 4 Stunden auf das rätselhafte Biotop des weiblichen Sinnesempfindens wirken werde.
„Allez les Suisses!“ „Quelle Coupe!“
Von wegen „Quelle Coupe!“, mir dampfte die Rübe unter der Perücke.
Medoc10Und nichts wie weiter zur nächsten Nobelhütte mit Ausschank.
Bei K21 laufe ich mit 1 Stunde und 50 Minuten vorbei – perfekt im Zeitplan. Für die zweite Hälfte habe ich noch 4 Stunden und 40 Minuten zur Verfügung. Das könnte aufgehen.
Bei K22 zählt mich ein Zuschauer als 423-sten Spinner der vorbei läuft und diese Platzierung wird sich noch ändern, aber dramatisch.
Medoc11«Hoch die Tassen!»
Langsam aber sicher wurde die Laufgeschwindigkeit reduziert, was man konsequent mit längeren Verpflegungsstopps kompensierte. Selbstverständlich gab es jede Menge herkömmlicher Verpflegungsposten mit Wasser, Isostar, Obst, Gebäck oder Rosinen, aber die filmend zu dokumentieren wäre dem Schreiber bei all dem Wein, den’s zu degustieren gab, nicht in den Sinn gekommen.
Bei K35 treffe die Achim und Antje, unsere Reiseleiter von interAir [3] und das hat genau gepasst, denn da war – wen wundert’s – eine Degustation und wir konnten zusammen anstossen.
(Übrigens: Bei K27 gibt es eine Abkürzung, wo man direkt zu K35 gelangen kann. Das ist bekannt, wird geduldet und auch rege genutzt. Insbesondere bei Läufern, die Körpergewichts- und/oder Promille-mässig etwas überproportioniert sind, macht das durchaus Sinn ein wenig abzukürzen. Es interessiert nämlich weder einen Mitläufer, noch einen Mitsäufer, noch das Publikum und schon gar nicht die Rennleitung, ob die notierte Zeit in der Gesamtrangliste 36 oder 42 Kilometer protokolliert.)
Medoc12Allerlei Viecher bewegten sich auf den Strassen des Médoc und die Meisten mit ein und demselben Ziel, dem legendären Verpflegungsposten bei K38, …
Medoc13… denn da gibt es das Hors d’oeuvre-Buffet.
Eimerweise frische Austern.
Die Strecke liegt hier direkt am Ufer der Gironde; dem Fluss, der die Stadt Bordeaux mit dem Atlantik verbindet. Muscheln schlürfen liegt also auf der Hand und dazu Weisswein trinken – à Discrétion, versteht sich!
Nach 10 Austern und einem Viertel Wein ging es weiter, denn schliesslich war das erst die Vorspeise.
Medoc14Der Beginn des Unterganges des Römischen Reiches. Prost!
Caesars Legionen testeten den Zaubertrank der Gallier exzessive, obwohl schon längst, anstatt einer Leistungssteigerung, eine Leistungsverweigerung der Muskelkraft beobachtet werden konnte, machten sie weiter.
«Die spinnen, die Römer!»
Medoc15Laufstil, Schrittlänge und Promillepegel haben sich mittlerweile auf einem gleichen, kleinsten, aber jämmerlichen Nenner gefunden.
Euphorie ist längst Katerstimmung gewichen, auf dem Weg zum nächsten Verpflegungsposten, wo der Hauptgang wartete.
Bei K39 gab es zur Abwechslung wieder Rotwein. Dazu servierten uns die Bordeaulaiser Entrecôte vom Grill. Promille hin oder her, der Protokollführer besteht darauf, zu betonen, dass es sich hier in keinster Weise um eine alkoholbedingte Gedächtnisindisponibilität handelt. Es gab Entrecôte! Das Fehlen der fotografischen Beweiserbringung, hängt mit dem schlaffen Akku der Kamera zusammen, der mit mir auf den 42 Kilometern nicht mithalten konnte.
Keine Frage, der Marathon des Châteaux du Médoc, befindet sich in der obersten Liga der Laufsportveranstaltungen, zusammen mit einem New York City- oder Jungfrau Marathon! Ein genialer Anlass mit höchstem Erlebniswert und der Besonderheit, dass nicht nur das Publikum zur Unterhaltung der L(S)äufer sorgt, sondern eben und vor allem auch umgekehrt!
Bei K41 wird zum Dessert geladen. Käse, frische Trauben und zum letzten Mal Wein.
Der letzte Kilometer war ein Triumphzug durch die Zuschauer-gesäumten Strassen von Pauillac. Mein Zieleinlauf erfolgte nach 5 Stunden und 17 Minuten, als 3215 von 7629 klassierten Läufern, mit 1,5 Promille (10K-Durchgangszeit: 47’ 28’’ als 277-ster / 30K-Durchgangszeit: 3h 17’ 11’’ als 1005-ter). Wie es sich gehört hat Heinz mein Siegerbier bereits gezapft. Das hat mich gefreut, aber entgegen den Erfahrungswerten aus Dutzenden von Marathons und der Berücksichtigung der hohen Temperaturen, war ich gar nicht wirklich durstig.
Trotzdem, nach so viel Wein, schmeckte zur Abwechslung ein kühles Bier vorzüglich. À votre santé!
Happy Trails – Dätti (powered by: Vin du Médoc)


  1. [1] Château Batailley 1998, 5ème Cru
  2. [2] le cortège: zu Deutsch der Umzug (in Basel der Fasnachtsumzug)
  3. [3] spezialisiert auf Marathonreisen: interAir GmbH, D-35415 Pohlheim – www.interair.de

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