Der Napf Marathon ist neuerdings 250 Meter länger als die klassische Marathon-Distanz von 42195 Metern. Also streng genommen ein Ultramarathon.
Nachgeforscht: Von Marathon nach Athen sind es auch keine 42 Kilometer, sondern der Grieche Pheidippides fiel angeblich bereits nach 40 Kilometer tot um. Allerdings ist Pheidippides mit Rüstung gelaufen. Andererseits laufen wir am Frauenfelder Waffenaluf auch in Uniform, zwar nicht mit Lederpanzer, aber im Tarnanzug und einem abgesägten Karabiner im Rucksack. Doch jetzt kommt der Hund, der dicke! Die Geschichte von Pheidippides wurde zwischen 120 und 180 n. Chr. von einem syrischen Schreiberling eines römischen Stadthalters in Ägypten zurechtgebogen. Wie wir wissen, war die Schlacht bei Marathon aber bereits 450 vor Beginn unserer Zeitrechnung. Zirka 600 Jahre sind also zwischen dem Ereignis und der Berichterstattung verstrichen. Ähnlich viel Zeit war verflossen, als 1804 ein gewisser Friedrich von Schiller, über einen gewissen Willhelm Tell protokollierte, dieser soll, mit Armbrust und Holzsandalen bewaffnet, in einer Hohlen Gasse gemeuchelmördert haben. Also, in Sachen Akkuratesse, sind beide Angelegenheiten, mit grösster Wahrscheinlichkeit, um 42195 Meter daneben. Geblieben ist, dass aufgrund von Fieberträumen von Dichtern gewisse Leute meinen 42195 Meter laufen zu müssen und die Schweizer einen international bekannten Nationalhelden haben.
Es gibt noch eine unangefochtene, wenn auch historisch bewiesene Überlieferung, betreffend unseres Freundes Pheidippides. Er war tatsächlich Schnellläufer, aber zum genannten Zeitpunkt damit beschäftigt, in einem Zweitagesmarsch, die lächerliche Strecke von gut 200 Kilometer, von Athen nach Sparta zu bewältigen, um Verstärkung für die Schlacht bei Marathon, anzufordern.
Die Marathonstrecke von zirka vierzig Kilometern wurde 1908 in England auf 42195 Metern – von Schloss Windsor ins White City Stadium – verlängert und ist seither amtlich. Zur Distanzänderung gibt es zwei Begründungen, welche stimmt, weiss heute keiner mehr, aber beide haben mit der Britischen Königsfamilie zu tun. Eine Möglichkeit besagt, der Start zum London-Marathon war am Eingangsportal von Schloss Windsor vorgesehen. Die Royals wollten aber den Start vom Balkon von Schloss Windsor aus begutachten. Nun liegt es an den architektonischen Eigenheiten dieser Hütte, dass der Balkon und die Gartentür Kilometer von einander entfernt liegen. Oder es war ganz einfach so, dass Queen Alexandra den Zieleinlauf direkt vor ihrer Loge im Stadion zu verschlafen wünschte, und die Strecke wurde zum Schluss hin verlängert!
Zur Schlammschlacht am Napf. Das Gelände und der Zustand der Strecke sind eine Herausforderung erster Güte, um und auf den 1408 Meter hohen Voralpenberg im Emmental, nahe dem geografischen Zentrum der Schweiz. Bei schönem Wetter sieht man, das gesamte Pornorama der Berner Alpen: Eiger, Mönch, Jungfrau und Konsorten. Der Parcours ist technisch äusserst diffizil. Dazu kommt, dass es dauernd hoch und runter geht und der Laufrhythmus ständig gebrochen wird. Die Beschaffenheit der Strecke kann ab und zu problemlos als ein Bachbett beschimpft werden, was eventuell auch als Beleidigung von Bachbetten im Allgemeinen missverstanden werden könnte. Es gibt ein paar Schlammlöcher, auch wenn es eine Woche lang nicht regnete. Doch heuer hat es die ganze Woche nie nicht geregnet. Zudem hatte man mit dem Vorwand Aufräumarbeiten des Sturms Lothar, die Waldwege mit schweren Forstmaschinen dermassen aufgewühlt, dass beim Lauf im Unterholz Fluchwörter zu hören waren, die bis anhin noch nicht erfunden worden sind! Andererseits schienen einige Läufer diese Umstände zu geniessen, denn sie erschienen wie frisch gesuhlte Wildsäue auf der nächsten Waldlichtung.
Man kennt diese Szenen, aus amerikanischen Stummfilmen, wo irgend so eine Depp in eine Baustelle gerät, die mit Beton ausgegossen wurde und der Bauarbeiter, ob der Zerstörung seines schönen, mühsam geglätteten Überzuges durchdreht. Ich war einmal abends in Zürich unterwegs – beim Joggen – ohne Brille und ohne Kontaktlinsen! Da war diese Baustelle, und es war Feierabend, und ich dachte, ich nehme, mit einer lässigen Flanke, die Abkürzung über die Absperrung, stört ja keinen. Ohä! Als ich zu Boden schaute, hatte ich keinen Sichtkontakt zu meinen Füssen und das hatte nun gar nichts mit Kurzsichtigkeit mangels Kontaktlinsen zu tun. Noch konnte ich erkennen, ob ich Socken trug. Ich stand knöcheltief im flüssigen Beton einer Trottoirbaustelle drin. Auf jeden Fall halfen mir in dieser delikaten Situation zwei Sachen, erstens und moralisch äusserst wertvoll, dass mich niemand kannte und zweitens, dass es einen Bach in der Nähe hatte. Und so war es beim Napf-Marathon nach dem Zieleinlauf in Truebschachen auch, betoniert bis zu den Waden und ab in den nächsten Bach zum Fegen von Unterschenkel und Schuhwerk.
Am Start war es neblig, doch schon nach 20 Minuten sind wir aus den Wolken gestiegen und von da an war nur noch Sonnenschein angesagt. Die Täler waren märchenhaft mit Nebelfetzen verhangen und die Bauernhöfe lagen, einsam und abgelegen, in Ruh› und Frieden zwischen den bewaldeten Hügeln des Emmentals. In meinem Bewusstsein fand ich mich, als Kesselflicker oder Scherenschleifer, in Gotthelfs Zeiten wieder, wo es Ueli der Knecht, mit Fleiss und Ehrbarkeit, zum Pächter des ansehnlichen Gehöftes brachte und in sinnlicher Liebe, anstatt des hässlichen und nicht minder gehässigen Drachens einer Bauerntochter, die arme, wunderschöne, jungfräuliche Magd Vreneli, Körper und Seele vereinend, ins Bett im Kornfeld… Wie auch immer, jedenfalls habe ich mir vorgestellt, dass Ueli und Vreneli im Kornfeld, durch uns Läufer ganz schön genervt worden wären.
Zurück zum Lauf: Der einzige Wermutstropfen war, das Wolken an der Kette der Berner Alpen hängen geblieben sind und uns dieser einmaligen Aussicht beraubt haben. Bei Kilometer 17 waren zwei ungleiche Trios: zuerst drei Fliegenpilze, Riesenbrummer mit zwanzig Zentimeter Hutdurchmesser. Danach drei Alphornbläser mitten in der Geographie, abseits jeder Zivilisation auf einer Wiese und sorgten für unsere Unterhaltung.
Irgendwann ist Fränzu auf mich aufgelaufen. Etwas kleiner, etwas älter als ich und wir haben ein wenig geplaudert und so, und er war mir sofort sympathisch. Mir fiel auf, viele an der Strecke kannten Fränzu. Einmal wollte er einen Gefallen von jemandem. Dieser stellte sich zwar so an, um ihm zu helfen, fragte aber dabei vier Mal. Fränzu willste ein Glas Weisswein? Fränzu wurde mir noch sympathischer.
Mit der Zeit hat sich dann eine Art Mitternachtssyndrom bemerkbar gemacht. Man ist da zum Laufen (in der Herkunftsform heisst es Saufen) und man will eigentlich gar nicht mehr laufen (saufen) und man läuft (säuft) halt noch, um nicht das Gesicht vor den Saufkumpanen zu verlieren! Das war jetzt zugegebenermassen kein geistreicher Spruch, allerdings versteht mancher von euch, was gemeint ist, vor allem die, die schon einmal uneigennützig, aber unfreiwillig in die Schweizer Armee zum Milizdienst einrücken mussten.
Gerade richtig gelegen, kam mir der nächste Verpflegungsposten. «Isostar – Tee – Wasser – Bier !», hat ein Bub gerufen. Wohl eher um, mit einem schelmischen Scherz, die Läufer ein wenig zu ärgern. Ihr könnt euch vorstellen, dass eine Welt für den Bengel zusammenbrach, als er meine Antwort vernahm. Aber der Schlingel hat sich schnell gefasst und mir tatsächlich Bier gereicht. Er nahm’s einfach seinem Vater aus der Hand. Mit einem prüfenden Blick, testete ich die Reaktion seines Vaters, denn ich wollte nicht einem Helfer, dessen wohlverdientes Bier klauen. Nun, die Emmentaler hatten sichtlich Freude an mir, und ich hatte sichtlich Freude an ihnen und gierigen Schluckes den kühlen Saft in meine Kehle gesogen.
Fränzu ist zurückgefallen, weil er Probleme kriegte, doch bei Kilometer 38 lief er wieder zu mir auf. Ich habe ihn, taktisch geschickt, in eine Diskussion verwickelt, um seinen Rhythmus zu brechen: Gell, du bist Fränzu! Nun war er mehr als mittelmässig überstaunt und errascht, dass ich ihn kannte. Ich konnte ihn alsdann beruhigen, denn jeder an der Strecke hätte seinen Namen gerufen, denn Fränzu ist ein Lokalmatador. Wir palaverten noch ein Bisschen, und ich benutze ihn als Hasen. Durch Fränzu bin ich dann doch noch einigermassen würdevoll weitergerannt, und wir sind gemeinsam eingelaufen. Nur – ich wollte mit ihm einlaufen, nicht gegen ihn kämpfen, aber das wusste Fränzu nicht und hat zum Schluss nochmals das Tempo verschärft. Ich blieb zwar dran, aber das wäre nun wirklich nicht mehr nötig gewesen. Jedenfalls haben wir uns im Ziel noch herzlich unterhalten und ich dankte ihm, dass er mich zum Schluss mitzog. Aber Fränzu meinte, dass ich ihn vor dem Kulminationspunkt über die weit längere Distanz gezogen hätte und das hat mich dann auch gefreut.
Danach bin ich – wie bereits erwähnt – zuerst in den Bach gestiegen und habe mir so gründlich mal die Unterschenkel inklusive Socken und Schuhe gerieben, um den gröbsten Unrat schon mal los zu werden. Den Fränzu hab› ich dann nicht mehr getroffen, denke der war bereits mit einem Glas Weisswein beschäftigt.

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