von Bruno Thoma / April 2012
Was bedeutet es, wenn jemand im Winter des öfteren trotz Kälte und trostlosem Wetter im Rebberg Muttenz ein paar Stunden lang die Treppe hinauf und hinunter hetzt? Wette verloren? Zu oft Rocky angeschaut? Sonntagsspaziergang für Masochisten? Für einen Lauf angemeldet und langsam bedenken ob das wirklich eine gute Idee war?
Früher nannte man ja den 100er in Biel auch „den Mt. Everest des kleinen Mannes“. Für alle die etwas näher an das Everest-Feeling herankommen möchten gibt es seit 2005 eine neue Herausforderung. Die Idee tönt eigentlich gelungen, ein Doppelmarathon bei dem man von den Höhenmetern her auf den Mount Everest rauf und wieder runter läuft, und das in maximal 24h. Da Sachsen aber nicht der Himalaya ist besteht der Everest hier aus einer Treppe in einem Weinberg. Diese Treppe ist ein echtes Monster aus Sandstein mit Namen Spitzhaustreppe und 397 Stufen. Sie wird 100x hinunter und hinauf gegangen, mit jeweils einem abschüssigen Stück Strasse an den Enden um auf die Distanz zu kommen. Ist wie 84x Towerrunning im Messeturm mit anschliessendem hinunterlaufen und je einer Runde in der Bar Rouge und auf dem Messeplatz. Statt Bar Rouge gibt es hier ein Verpflegungszelt, und die Getränke sind im Startgeld inbegriffen. Wenn das mal kein guter Grund ist, nach Radebeul bei Dresden zu fahren!
Radebeul wird wegen seiner reizvollen Lage in der Lössnitz auch „Sächsisches Nizza“ genannt, zurückgehend auf einen Ausspruch des sächsischen Königs Johann um 1860. Ob besagter König selbst mal in Nizza gewesen ist weiss ich nicht, allzu gross ist die Verwechslungsgefahr jedenfalls nicht, unter anderem fehlt das Meer. Der bekannteste Radebeuler ist aber sowieso Karl May, der hier in der „Villa Shatterhand“ residierte (für alle welche jetzt schon grinsen, hinter dem Haus steht ein Blockhaus mit Namen „Villa Bärenfett“, dort hat vermutlich Winnetou jeweils gewohnt wenn er zu Besuch war). Karl war ja auch nie in Amerika, hat aber von seinen Geschichten recht gut gelebt. Ob die Radebeuler einfach mit viel Phantasie gesegnet sind oder ob hier neben dem Wein noch andere bewusstseinserweiternde Pflanzen angebaut wurden weiss ich nicht, die Vermutung ist aber nicht abwegig. Mir war von Anfang an klar dass das raufsteigen eigentlich nicht das Problem werden dürfte, aber 39‘700 Stufen die Treppe hinunterjoggen tönt nicht so toll. Dass in den letzten Jahren nur rund die Hälfte der Teilnehmer die 100 Runden innert der geforderten 24h geschafft haben hat mich dazu veranlasst mich einigermassen seriös vorzubereiten, womit wir wieder bei der Treppe im Rebberg Muttenz wären.

Lauf

Bei schönstem Wetter wurden um 14:30 die Startunterlagen und alle letzten Infos abgegeben. Danach lungerten wir noch etwas im Startbereich herum und schauten mit gemischten Gefühlen von oben auf die Strecke hinunter, bevor es dann um 16 Uhr endlich losging. Zum Lauf gibt es eigentlich nicht allzu viel zu schreiben, deshalb versuche ich es diesmal im Telegrammstil.
16:00 Uhr, Start.
16:11 Uhr, Erste Runde, Tempo leicht zu schnell, aber noch sehr entspannt. Mensch ist die Treppe lang.
19:42 Uhr, 20 Runden, 1770 HM. Meine längste Trainingsdistanz im Rebberg Muttenz. Im Wettkampf 30min länger gebraucht als im Training, ich bin auf Kurs.
20:43 Uhr, 25 Runden, Halbmarathon. Langsam wird es dunkel, die ersten Fledermäuse gehen auf die Jagd.
22:27 Uhr, 34 Runden, Zugspitze (von den Höhenmetern her). Höchster Hügel Deutschlands.
01:47 Uhr, 50 Runden. Marathon. Die Hälfte ist geschafft. Ob beim LSVB wohl schon einmal jemand länger als 9h47min für einen Marathon gebraucht hat?
03:18 Uhr, 57 Runden, +/- 5043 HM. 10 km Laufen in der Senkrechten.
03:59 Uhr, 60 Runden, Halbzeit. Habe meine geplanten 5 Runden pro Stunde bisher halten können, aber langsam zwickt es in den Beinen, und die Rundenzeiten steigen. Das kann ja noch heiter werden.
05:38 Uhr, 67 Runden, Kilimandscharo. Es regnet. Das hat gerade noch gefehlt.
05:47 Uhr, der Sieger läuft in neuer Rekordzeit ins Ziel ein. Es regnet immer noch. Mein rechtes Bein schmerzt bei jeder Stufe. Mir fehlen noch 32 Runden. Eine Hochrechnung ergibt, dass ich noch etwa 8h unterwegs sein werde. Im Wissen darüber dass lang laufen blöd macht rechne ich nochmals mit den Fingern nach, aber das Resultat bleibt bestehen. Oje, jetzt wird es hart.
08:27 Uhr, 79 Runden, 6990 HM. Aconcagua. Das Wetter ist wieder sonnig und schön kühl, und es hat wieder mehr Zuschauer an der Strecke. Noch 21 Runden.
11:09 Uhr, 90 Runden, knapp 8000HM sind geschafft. Noch 10 Runden. Die Läufer welche noch unterwegs sind machen auf der Treppe definitiv keinen entspannten Eindruck mehr. Zum Glück gibt es ein Geländer.
11:23 Uhr, 91 Runden, +/- 8052 HM. 10 Meilen Laufen in der Senkrechten.
13:21 Uhr, 99 Runden. Ich gehe auf die letzte Runde und erhalte vom Treppenlauf- „Maskottchen“ Clara meinen Blütenzweig, den sie allen Finishern gibt. Ich versuche die letzte Runde zu geniessen.
13:35 Uhr, 100 Runden, +/- 8848 HM. Mt. Everest. Nach 21h35min19s endlich auf dem Gipfel. Geschafft. Ich zeige der Treppe in Gedanken 2 Finger, einen an jeder Hand. Nie wieder einen Schritt auf dieser Treppe.
13:45 Uhr. Ich spaziere im Zielbereich herum und versuche, meine Beine zu lockern. Es sind immer noch Läufer unterwegs, auch einige welche die 100 Runden nicht schaffen werden ziehen die vollen 24h durch. Nach all den Salzstangen, Gels und Iso führt meinWeg zum Wurststand, Bockwurst mit Brot ist angesagt. Jetzt wo die Beine nicht mehr so beschäftigt sind kriegt langsam auch das Gehirn wieder etwas mehr Sauerstoff. Fragen tauchen auf. Hat es ich gelohnt, die Longjoggs an den Wochenenden auf der Treppe statt im Wald zu verbringen? Wie viel müsste man mir zahlen, damit ich diesen Lauf ein zweites mal machen würde? Kann ich nun bereits ein Bier trinken, ohne dass mein Blutdruck in den Keller rauscht? Wenn ich nachher im Hotel in die Badewanne steige, komme ich dann auch wieder alleine hinaus? Ob meine Lebensversicherung wohl Regress nehmen würde wenn ich jetzt tot umfalle? Und der wichtigste Gedanke: Ich bin jetzt oben am Rebberg. Das Hotel ist unten. Problem? Problem!

Der Tag danach – die Entdeckung der Langsamkeit

Ab einem gewissen Alter heisst es dass wenn man am Morgen aufwacht und es tut einem nichts weh ist man tot. Ich bin definitiv nicht tot. Auf dem Weg ins Bad habe ich aber einen Vorgeschmack davon gekriegt wie es sich anfühlen muss Alt zu sein, richtig Alt, so ca. 140. Zum Glück ist meine Prostata nicht die eines 140-jährigen, sonst hätte das nie gereicht. Da mein Flug erst am Abend ging bin ich dann aber schon bald mit dem Taxi zum Bahnhof und von dort mit dem Zug nach Leipzig gefahren. Dort bin ich im wunderschönen Zoo herumgeschlichen wie Winnetou, nachdem dieser 7 Tage Non-Stop auf einem dreibeinigen Pferd durch die Prärie galoppiert ist. Sogar die Orang Utans haben mitleidig geschaut. In einer Hand meistens etwas zu Essen oder Trinken, und in der Hoffnung dass alle Gehege gut verschlossen sind, denn wenn eine Schildkröte gefallen an meinem Sandwich gefunden und die Verfolgung aufgenommen hätte, ich hätte keine Chance gehabt ;-).

Fazit

Der Lauf ist hervorragend organisiert, die vielen Helfer haben uns immer voll unterstützt und zusammen mit den zahlreichen Zuschauern geholfen, den Lauf zu überstehen. Der Lauf ist eine echte Herausforderung und ein Erlebnis welches man garantiert nie vergessen wird. Wer’s selbst erleben will – Treppenlauf 2013! Treppe laufen/gehen ist brutal. Wer das nicht trainiert kommt nicht ans Ziel, da hilft alle Fitness oder Berglauferfahrung nichts. Um Training auf der Treppe kommt man schlicht nicht herum, und wer glaubt dass der Lauf monoton ist der muss wissen dass ich in den Monaten vor dem Lauf auf den von der Stufenhöhe her brauchbaren 30 Höhenmetern im Rebberg Muttenz den Everest rund 2x bestiegen habe.
Um den Gipfel zu erreichen muss vor allem die Motivation stimmen, da es spätestens nach einigen Runden eigentlich keinen vernünftigen Grund mehr gibt weiterzumachen. Wenn diese Einsicht nach z.B. 4h aufkommt dann wird es ohne stabile Motivation nix. 24h können doch sehr lange sein. Und bei den meisten kommt gegen Schluss der Punkt wo es nur noch darum geht, die restlichen Runden zu ertragen. Ein weiteres Problem ist dass der effektive Energiebedarf rund 15‘000 kcal beträgt. Entspricht 36 Liter Cola. Oder 54 Magnum-Glace’s. Oder 1,7kg Körperfett. Hier helfen nur die 2 F – Fettstoffwechsel und Futtern. Die Energieaufnahme innert 24h ist aber begrenzt, ich würde möglichst von Anfang an das Tempo laufen welches die Fettverbrennung hergibt. Für Leistungssportler welche schon nach 3h den Hammermann hinter jeder Ecke vermuten ist dieser Lauf deshalb weniger geeignet, und darum sehen die welche schnell starten meist auch schnell alt aus.
Denn merke – es geht an diesem Lauf immer entweder hinauf oder hinunter, erholen geht nur abwärts, und auch dies nur so lange die Muskulatur abwärtslaufen noch lustig findet. Im Gegensatz zu Bergläufen gibt es hier zudem keine Möglichkeit, bei Problemen mit den Beinen die Schrittlänge zu verkürzen, da auf der Treppe immer mindestens 1 Stufe auf’s mal genommen werden muss. 18,5cm können dann plötzlich ganz schön viel sein. Auch der Kopf ist immer gefordert, da es auf jeder Stufe und oben auf dem Kopfsteinpflaster 100‘000 Gelegenheiten gibt auf die Schnauze zu fliegen. Ist es steil? Wieso braucht jemand für so ein paar läppische Kilometer fast 24h?
Hier ein kurzer Vergleich: Stellt euch vor den Jungfraumarathon zu absolvieren und anschliessend wieder hinunterzulaufen, einfach mit 5x so viel Höhenmetern. So steil ist es. Und darum braucht man als Hobbysportler 21:35h dafür. Und das praktisch ohne Pausen, ich habe nur zum Essen etc. kurz pausiert, aber nie länger als 3 bis 4min. Der Lauf ist nur für einigermassen schnelle Läufer zu schaffen, die 24h für 8848HM sind knapp bemessen. Es dürfte weltweit keinen anderen Lauf geben, bei dem man für so viele Höhenmeter nur 24h Zeit hat. Ein ernsthaftes Problem unterwegs und der Lauf ist gelaufen. Dass diesmal 60% der Startenden die 100 Runden geschafft haben spricht vor allem für das Teilnehmerfeld, so hoch war die Quote nämlich noch nie. Und ja – es gab einen Shuttle, welcher uns Läufer hinunter zum Hotel gebracht hat. Schwein gehabt.

Schreiben Sie einen Kommentar