Mord, tätlicher Angriff auf einen Staatsangestellten, Vergewaltigung einer Jungfrau weißer Hautfarbe, versuchte Vergewaltigung einer Frau schwarzer Hautfarbe, Unterbrechung des Schienenverkehrs in räuberischer Absicht, Bankraub, Strassenraub, Raub in einer unbekannten Anzahl von Postämtern, Flucht aus dem Staatsgefängnis, Falschspiel mit gezinkten Karten und Würfeln, Förderung der Prostitution, Erpressung, versuchter Verkauf geflüchteter Sklaven, Falschmünzerei, Missachtung des Gerichts, Brandstiftung am Gerichtsgebäude und Sheriff’s Office in Sonora, Viehdiebstahl, Pferdediebstahl, Waffenschieberei an Indianer, Amtsanmaßung als mexikanischer General und ungesetzlicher Bezug von Vergütungen und Pensionen der Unionsarmee!, die Urteilsbegründung gegen Tuco Benedicto Pacifico Juan Maria Ramirez, kurz Tuco genannt.
Im Hotelzimmer vor der Glotze bestaune ich, was Sergio Leone alles in den Sinn kam, um’s ins Drehbuch der beiden glorreichen Halunken schreiben zu lassen. Könnte ich so Bücher schreiben, ich läge am Pool meines Anwesens in Beverly Hills, daneben der Champagner-Kübel. Und nicht mit einem Pils in der Hand im Hotelzimmer am Fruchtmarkt. Auf denselben haben wir einen schönen Blick, mitten in der Fussgängerzone St. Wendels, wo man morgen Marathon läuft. St. Wendel, ein nettes Städtchen im Saarland.
Obwohl, aber und allerdings: So wie Deutschland damals mit Bomben beschmissen wurde! Der Trick im Weltkrieg lag beim gezielten Zerstören von Wohngebieten und Innenstädte, um die Moral vom Volk zu brechen. Pragmatisch moral bombing genannt. Anders formuliert, britischen Generäle war die Zivilbevölkerung so wurscht, wie deutschen Führern. Ungezählte Tonnen Sprengstoff zerstörten die historische Bausubstanz fast sämtlicher deutschen Städte. Wenige blieben verschont, zum Beispiel St. Wendel. Was aber Arthur Harris, Britanniens Fliegerchef, trefflich Bomber-Harris genannt (hat sogar dieselben Initialen wie der österreichische Gefreite) nicht vollbrachte, schafften die Stadtverantwortlichen von St. Wendel in den 60ern bis hin in die 80er- Jahre. Das ursprünglich gut erhaltene, alte Stadtbild wurde vielerorts niedergerissen. Ähnliches Resultat wie Flächenbombardement, heisst aber Flächensanierung zur Stadtentwicklung. Unglaublich. Deswegen ist St. Wendel zwar nett, aber irgendwie halt doch teilweise unromantisch zeitgemäss. Oft geradlinige Bauten, 60er- Jahre-Bauboom-Fassaden, praktische Häuserformationen schön angeordnet, aber charakterlos. So, wie die vielen anderen, aber vom Krieg versehrten deutsche Städte. Ausgenommen ist das Quartier um den Fruchtmarkt.
Beim Marathon durch St. Wendel fragt man sich, wie wäre es hier, wenn ein paar eventuell von der Bauindustrie unterstützte Politiker eventuell die Bauindustrie nicht unterstützt hätten? Der Ort wird zum Glück von diversen Sehenswürdigkeiten, ursprünglich belassenen Häuserzeilen und Sakralbauten, allen voran der Wendalinusbasilika, aufgelockert und ist drum doch einen Besuch wert. An der Wendalinusbasilika kommt man ohne es zu wollen vorbei, nur nicht beim Marathon selber. Alles was mit dem Marathon zu tun hat, Pasta-Party, Startnummernausgabe, Marathonmesse, auch Kneipen und Läden sind rund um diese Kathedrale verteilt. Der Start liegt am Schlossplatz, 100 Meter entfernt, in Hör- aber nicht in Sichtweite der Kirche. Eine Band und der Speaker sorgen die ganze Zeit für ordentlich Rabatz. Wer nicht laufen muss, setzt sich einfach in eines der vielen Strassenkaffees rund um den Schlossplatz, geniesst die Stimmung und das Treiben und absolviert, während die Kollegen den Laufmarathon abspulen, den halsbrecherischen Pils-Marathon. Hinterher kann man dann vergleichen, wer frischer dreinschaut: Der wo vier Stunde über den Asphalt schlurfte, oder der wo vier Stunden Bier schlürfte? Was aber der Säufer beim Eckkneipenwirt nicht mitkriegt, auch auf der Strecke hat’s einige Musikgruppen mit Sängern, Musikgruppen ohne Sänger, oder Sänger ohne Musikgruppen. Gutes Unterhaltungsangebot. Das hilft beim Sprint.
Country Roads – Take me home – To the place – I belooong – West-Virginiaaaa… Jedesmal wenn ich den Reim höre, krieg› ich die Gänsehaut… Blue Ridge Mountains – Shenandoah Valleeeey… Einfach geil. Da läuft Laufen wie von selbst.
Die Strasse ist komplett gesperrt. Man rennt zu drei verschieden Wendepunkten und zurück und hat drum immer entgegenkommende Läufer im Blickfeld. Das bringt etwas Abwechslung, denn ausserhalb der Stadt ist nicht so wirklich viel los, um nicht nichts zu sagen. Aber wenn ich dann einmal wegen Unterstützungsvakanz mit völliger Motivationsabsenz im Blick, aber apathisch so am Laufen bin, erkennt’s Graziella und kompensiert mit ihren Tipps von wegen ‹mal den Laufrhythmus ändern oder Lockerungsschritte einbauen. Auch eine Art Abwechslung, aber momentan ärgert mich jeder Vorschlag, der mit Fortbewegung zu Fuss – egal in welchem Rhythmus – zu tun hat.
Am Tag, als Conny Kramer starb – Und alle Glocken klangen – Am Tag, als Conny Kramer starb – Und alle Freunde weinten… In den Siebzigern wurde bei dieser Melodie gekifft, bald vierzig Jahre später laufe ich Depp dabei die Langstrecke. Die Bands am Wegrand werden weniger, doch kommt einem immer wieder mal eine zu Ohren.
Irgendwann hechtet uns Wolfgang entgegen. Er ist auf knapp über Drei-Stunden-Pace. Doch des Wetters Hitze steht ihm in die Rübe geschrieben. Ihm ist sauwarm; erzählen braucht er’s keinem, denn sehen kann’s jeder. Ich versuche das Rot seiner Birne anhand der RAL-Farbskala zu digitalisieren (i. e. RAL 3024: Leuchtrot). Übertragen nach Celsius ergibt der Wert 22 Grad, wenn’s hätte, im Schatten. Weiter so! Du siehst gut aus!, log ich ihn an.
Ungefähr bei Kilometer 16, stehen fünf Hardrocker. Lange Haare, aber graue und schütter. Um die fünfzig, alte Säcke – wie ich halt. Bei denen liefen wir schon zu Beginn vorbei. Prägnanter, unmissverständlicher, guter Sound. Mir geht’s gleich besser. Etwas weiter stehen ein paar Jungs. Noch lauter. Bass, Gitarren, Keyboard und Schlagzeug. Dezibel, Rhythmus, Musik und Gesang sind unausgewogen, hindern sich gegenseitig, aber effizient. Egal, Hauptsache laut. Es schäppert wie sau… und nicht zu knapp. Ein anders Mal: …Jimmy wollt› ein Mädchen lieben – Doch ein andrer kam daher – Und als Trost sind im geblieben – Die Gitarre und das Meer… so besang Freddy Quinn die unerwiderte Liebe. Meine Oberschenkel machen mit; sie erwidern meine Liebe – aus naheliegenden Gründen – auch in keinster Weise. … Juanita hiess das Mädchen – Aus der grossen fernen Welt… Traurig, aber so weiss ich, dass es nicht nur mir dreckig geht. Das lenkt mich ab und das tut Not, denn die Runde geht langsam dahin, wo die Kräfte längst ankamen – dem Ende entgegen.
Auch Graziella erkennt das Witzlose meiner Situation und kommentierte kompetent, um mich zu motivieren:
Jetzt noch das letzte Stück! Einfach rollen lassen!
Einfach rollen lassen? Rollen lassen geht nicht. Und einfach ist momentan Unwort des Jahrhunderts.
Roll mir einfach den Buckel runter!, meine präzise pointierte, aber nur gedachte Antwort.
Danach will sie auch noch wissen: Wie geht’s? gefolgt mit einem zärtlich akzentuierten: Schatz?
Ich krieg› die Krise: Schatz!, sagt sie. Beim Marathon. Ich will nicht Schatz sein. Das geht momentan gar nicht. Ich will ein Bier. Das geht! Ich hole tief Luft, um ihr so richtig…. Und halte dann zum Glück doch nur meinen Latz. Denn meine Erwiderung hätte ihr nicht beantwortet, wie’s mir geht. Aber sie nachhaltig überzeugt mit mir, die nächsten vierzehn Tage auf mündliche Kommunikation zu verzichten. Nicht dass ich das gewollt hätte, aber sie hätt’s ums Verrecken so aufgefasst.
Informationen von ihr an mich, wären in dieser Zeit per Notizzettel am Kühlschank geflossen. Jaja, das kann sie. Wie damals als ich ihr sagte, sie solle mit meinem Auto… Jedenfalls hüte ich mich, wenn’s um mein Auto, oder auch um unwichtige Dinge geht, ihr irgend etwas vorzuschlagen und wenn ich noch so im Recht bin, was ich ja bin. Der Mann muss schliesslich Herr sein in seinem Haus, so wollen es Natur und Vernunft! Das hat Adolph Freiherr von Knigge herausgefunden. Gemäss Knigge hat uns Mutter erzogen und bei solchen Sprüchen fiel mir die Erziehung sogar leicht. Der Mann muss Herr sein in seinem Haus, so wollen es Natur und Vernunft. Bei unserem Vater sah sie das allerdings nicht unwesentlich anders. Eine verkehrte Welt: Jede Frau will zuhause die Hosen anhaben. Aber von ihrem Sohn verlangt sie, dass er bei sich zuhause der Hosenträger ist, falls er einmal verheiratet sein sollte.
Eine letzte, kurze Steigung vor der Abzweigung zum Ziel, nimmt mir den letzten Schwung in die Bahnhofstrasse hinein Richtung Schlossplatz. Meine Endzeit liegt bei der Marathon-Weltbestmarke. Blöd nur – ich lief bloss den Halben. 21 Kilometer, aber ich war nach 42 schon weniger kaputt.
Zu etwaiger Kritik an der Genauigkeit der Überschrift dieses Elaborates folgendes: Wer unbedingt einen ganzen Marathonbericht wünscht, beginnt nochmal mit dem Lesen von vorne. So machen’s nämlich die Marathonläufer St. Wendels auch. Sie wiederholen das Gelesene ein zweites Mal; setzte noch eine gleiche Runde drauf. Aber ich besann mich wieder auf die guten alten Werte der guten alten Zeit, als alles viel besser war. Noch eine Runde laufen war mir, wie damals, am Tag als Conny Kramer starb, einfach viel zu blöd.

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