Laufen macht scheint’s süchtig, wird dem Marathon- und Volksläufer unterstellt. In Zeitschriften wird von nach Glückshormonen süchtigen Läufern berichtet und im Fernseher ersetzten Diskussionen mit Glückshormonläufern, diewelchen von glücklichen Hormonkälber. (In jüngster Vergangenheit gab es halt von Letzteren weniger und mit Letzteren noch gar nie etwas zu diskutieren.) Kein Wunder fragt mich ab und zu der gemeine Nichtläufer: Wie ist denn das so, wenn der Körper Glückshormone ausschüttet?, um – ohne eine Antwort abzuwarten – fortzufahren: Gell, laufen macht süchtig?
Es ist so, das Glückshormon ist eigentlich kein Hormon, sondern ein Neutrotransmitter, einer der Botenstoffe, die im Gehirn als Befehlsübermittler dienen. Sein Name ist Serotonin und es vermittelt ein Gefühl von Wohlbefinden, fördert Schlaf und kann Endorphine, die unter anderem bei längeren Ausdauerleistungen vermehrt ausgeschüttet werden und für das gute Gefühl bei Läufern zuständig sind, sogenanntes Runners High, aktivieren. Blöd nur, bei mir sind beim Langstecke laufen die Botenstoffe die Erschöpfung, Schmerz, Übelkeit, Müdigkeit und Dünnpfiff signalisieren dermassen präsent, da gibt’s kein Platz mehr für Serotonin.
Und so stehe ich jetzt hier am linken Zürichseeufer beim Start zum Zürich Marathon, bin nervös bis hin zu Bauchweh und frage mich, ob ich nicht noch schnell zum WC zurücklaufen soll, wissentlich, dass ich ja gerade da her komm›. Da ist es jetzt also: das Glücksgefühl – mein Runners High.
Die Erlösung aus meiner Nervosität erfolgte, als entzündetes Schwarzpulver abgestandene Luft aus dem Revolverlauf des Starters und somit den Läuferpulk auf den Parcours beförderte. Wie immer: Gedränge, Gezwänge und Ge-Ellbögel, weil etliche Zwiebeln, auf den ersten zwei Kilometern sekundenweise die Zeit wett zu machen gedenken, die sie minutenweise auf den letzten 20 Kilometern verlieren werden. Im Bereich der Quai-Brücke beruhigt sich die Sache langsam, vielleicht sind die Drängler schon müde. Bei perfekten, noch etwas kühlen und sonnigen Wetterverhältnissen galoppieren wir am Bellvue-Platz vorbei. Vierzehntausend Turnschlappen bewegen sich paarweise an den Zuschauermassen vorbei und weiter, inzwischen am rechten Seeufer, aus der Stadt hinaus.
In den Ortschaften – Zollikon, Küsnacht, Erlenbach, Herrliberg, Feldmeilen und Meilen – ist teilweise der Teufel und das Publikum los. Man heizt uns tüchtig ein. Zwischen den Dörfern sind wir manchmal unbeobachtet. Die Zuschauer bekommen da nicht alles mit. Zum Beispiel wie einer auf den begrünten Mittelstreifen der Strasse pinkelt. Zeitsparend sukzessive vorwärts marschierend, seinen gebogenen Strahl bei jedem Schritt halbmeterweit, abwechslungsweise nach links und rechts giessend. Den Boden freut zwar die flächendeckende Nährstoffbereicherung – alleine, der Mitläufer greift sich an die Birne, staunt und denkt… Besser ich schreibe nicht, was ich dachte. Kurzes Rechnen beruhigte mich insofern, die paar Meter, die ich verliere, weil ich beim Schiffen an einer Hecke still rumstehe und dabei mit dem Blick über den Zürichsee zum Kursschiff schweife, Segelboote und Windsurfer beobachte, werden im Ziel nur zehn Sekunden ausmachen.
Später, bei Kilometer 13 oder 14, sehe ich bereits das Ende des Tunnels. Dabei geht’s noch knapp 30 Kilometer, doch ich bin mir sicher, ein weisser Fleck und rings herum alles schwarz. Huppla! Das ist die Spitze nach dem Wendepunkt und bereits auf dem Rückweg nach Zürich. Der weisse Punkt ist Viktor Röthlin, das Schwarze 20 Afrikaner – und ich noch verdammt weit vom Ende des Tunnels entfernt.
In Meilen, beim Wendepunkt, lassen die Zuschauer wieder die Sau raus. Das hilft uns Läufern ungemein. Auf der anderen Strassenseite wird nun wieder in Richtung Zürich zurückgesprintet. Dabei kreuzt man den einten oder anderen Bekannten, der hinter einem entgegen kommt. Je später sie kreuzen, nicht Glückshormonen kommen auf, verschwiegene Häme ist es. Daran lasse ich meine Kollegen teilhaben: Salü Sepp, läuft wieder Scheisse heute, gell?
Bei Kilometer 25 bin ich wieder einmal mehr sehr sicher und zwar endgültig Glückshormone beim Laufen gibt es nicht! Das macht sich so bemerkbar: Man hat die Nase langsam voll, hingegen die Beine sind leer, wie ein leergesoffenes Bierglas, das nie gefüllt war und ein Loch im Boden hat. Der Zeitpunkt für die mentalen Tricks ist gekommen: positives Denken! Und wie ich so positiv an etwas schönes, nettes, erotisches, liebes zu denken gedenke, kommt mir prompt mein Schatz in den Sinn. Das passt! Und ich denke jetzt also beim Laufen an sie, denn sie ist schön, nett, erotisch und lieb ist sie auch – oft. (Letztens habe ich ihr meine Teilnahmeabsicht am Basel City Marathon mitgeteilt: Ja, so trainingshalber, vielleicht in 4 Stunden möchte ich laufen. 4 Stunden!, lautete ihre rein rhetorische Bestätigung. Du kannst doch nicht den Basel Marathon in 4 Stunden laufen! Meine Freundinnen gehen davon aus, dass du da mitläufst und sie werden mich danach fragen. Wie sieht das denn aus, wenn ich denen sagen muss: 4 Stunden! Du musst dich schon ein wenig anstrengen! Verdammt! Meine zwischen den Zähnen geknirschten Einwände, wegen der Hitze im August, hat sie auch nicht wirklich beeindruckt. Trotzdem, ich habe positiv an sie gedacht.)
Um die Mittagszeit sind die Temperaturen recht angenehm, ein kleines bisschen zu warm, fast optimal. Zurück am Stadtrand von Zürich ist entgültig Schluss mit Zuschauerlücken. Jetzt kriegen wir bis ins Ziel ständig, vehement und lautstark Publikumsunterstützung. Und das ist gut so, denn der Trick mit dem erotischen Denken vom positiven Schatz wirkt auch nicht mehr so wirklich. Mir stinkt’s und nicht zu knapp. Ich wollte das positive Denken noch etwas steigern und begann Eveline in meinen Tagträumen auszuziehen. Das ging aber komplett daneben – um nicht in die Hose zu sagen –, weil ich den Adrenalinschub prompt kriegte, aber dermassen und vor allem nicht da, wo ich ihn gebräucht hätte. Um die hübschen Zürcherinnen am Strassenrand, vor meinen, aus aphrodisischen Einfällen schlussgefolgerten Kurzschlusshandlungen in Sicherheit zu bringen, musste ich mein positives Denken und die erotischen Einbildungen von der weiblichen Liebeskunst schleunigst verdrängen[1]. Ich zog Eveline sofort wieder an und stellte sie ans Ziel des Marathons, wo sie mir gefälligst in einer Stunde ein kühles Bier zu kredenzen habe.
So half ich mir also durch die Zürcher Innenstadt und über das Darben nach Glückshormonen hinweg. Bei Kilometer 34 läuft Ueli auf mich auf. Er ist schnell und meint: «Komm, bleibt dran.» «Ja toll. Und wie?», dachte sich das Gehirn in meiner Rübe.
Anhängen! Jedenfalls versuchte ich es und merkte, was ich bereits wusste, der Ueli ist verdammt schnell. Und alle 50 Meter merkte ich es wieder, verdammt und zu schnell! Ich wollte abreissen lassen und blieb doch bei ihm, einfach zum Sichersein, dass er wirklich zu schnell ist, was er ja war. Als ich dann ganz sicher war, dass Ueli zu schnell für mich ist, habe ich aber den Rhythmus gefunden und wir liefen doch gemeinsam weiter, über Trottoirs, Tramgeleise und um Häuserecken durch Zürich. Die Streckenführung sucht hier noch ein paar Kilometer kreuz und quer durch die Limmatstadt. Es geht im Zickzack-Kurs durch die City, was von einigen Läufern als Nachteil kritisiert wird. Es kann schon sein, dass bei der Kurvenhatz ein paar Sekunden drauf gehen, aber es ist kurzweilig, weil abwechslungsreich, die Kilometermarkierungen tauchen relativ schnell auf und deshalb empfand ich die Streckenführung eher als Vorteil.
Etwas später rumort es an meinem Achterdeck und ich denke: In der Nase an leicht gärenden Cassissaft erinnernd. Im Bouquet sehr komplex, mit breiter Würzaromatik, alternde Vanille- und Schokoladetöne, auch überreife Himbeeren und leicht animalisch. Im Auftakt offen mit angenehmer, dominanter Frische und ideal eingepasster Säure. Tiefgründiger, kompakter Körper mit vielfältigen Aromen von Frucht- und Holzfasslagernoten, aber etwas ledrig und ein endloses Finale mit etwas teerigem Abgang.[2]
Und Ueli wird sich gedacht haben: Poaah!
Bei Kilometer 40 kriegte ich wieder ein Problem, weil ich auf meiner Uhr festzustellen glaubte, dass mit Heimweh, Rückenwind und meinem unbändigen Lechzen nach dem Löschen meines Bierdurstes eine persönlichen Bestzeit drin liegt. Ich verschärfte das Tempo. So, bei Kilometer 40 kann man aber gar nicht mehr effektiv denken und sinnvolle Ziele definieren. Addieren von Kilometerzeiten und Zwischenzeiten funktioniert nicht unbedingt. Sprich, meinem fotografischen Gedächtnis ging längst der Film aus. Jeder Erstklässler hätte mir eindrücklich mein Fehlkalkulieren beweisen können. Alleine – mir mangelte es nicht nur an Glückshormonen, sondern auch an einem Erstklässler, der mir vorrechnete.
Das Resultat: Eine Minute fehlte nach dem Zieleinlauf zu einer Bestzeit, trotzdem bin ich sehr zufrieden mit der gelaufenen Zeit. Freude und Stolz über die vollbrachte Leistung manifestiert sich im breiten Gegrinse der Marathonläufer, oder besser gesagt, wir grinsen weil wir froh sind, dass der Scheissdreck endlich vorbei ist. Freudentränen zeugen von Emotionen, vereinzelte Grimmassen vom hinterhältigen Wadenkrampf und planlos in die Luft gefuchtelte Fäuste dokumentieren Stolz und Genugtuung. Bücken zum Schuhbändel lösen, ruft penetrant Muskelkater ins Bewusstsein und Freudensprünge erübrigen sich insofern, weil man vorläufig in keinster Weise Freude an Sprüngen hat.
Und schliesslich – welch unerklärlich Wunder – wird noch das einte oder andere Glückshormon in meinem Körper ausgeschüttet, unmittelbar nachdem ich kühles Bier in mich hineinschüttete. Vor lauter Freude am Bier- und Glückshormonausschütten habe ich dann, rein sicherheitshalber, grad noch eine zweite Büchse Bier nachgeschüttet.
Da ist es jetzt also doch das Glücksgefühl, mein Runners High. Obwohl – 42 Kilometer hätte ich deshalb nicht ums Verrecken zu laufen brauchen.


  • [1]Merke: Das gefährlichste Organ im Menschen ist der Kopf! (Alfred Döblin)
  • [2]Dass das nicht geistreiche Dichterkunst ist, weiss ich selber; allerdings habe ich den Mist nur wortwörtlich von einer Weinbeschreibung eines Önologen abgeschrieben. Den Wein habe ich dann nicht gekauft, weil er laut Beschreibung nach Furz riechen muss.

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