von Margrit Rohrbach
Es gibt einen alten Spruch «Reisende soll man nicht aufhalten». Nun, gegen das eine oder andere Ziel sollte man schon aus Selbstschutz ein Veto einlegen. Ich habe dieses Vetorecht klar verpasst und was ist die Folge? Zum dritten Mal haben Hans-Jürg Erni und ich uns am Nordseelauf angemeldet, obwohl meine Teilnahme im 2009 meine letzte sein sollte – so mindestens lautete meine Abmachung, die ich damals mit mir geschlossen hatte. Aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!
Wie soll man die Faszination der Nordsee beschreiben? Es kann damit beginnen, dass man einen Deich erklimmt und die endlose Weite bis zum Horizont sieht. Was man spürt ist die Luft, die nach Jod riecht und nach Salz schmeckt. Und dann wird man hören, wie wenig man hört: wenn der Wind landeinwärts weht, hört man ein paar Möwen nach Futter schreien oder das Tröten eines Schiffssignalhorns, vielleicht noch die Rufe von Kindern am Strand. That‘s it. Die Faszination kann aber auch noch eine andere sein. Vorne am Horizont, nur 3 bis 10 km von der Küste entfernt, zieht sich die Reihe der sieben Ostfriesischen Inseln hin: Borkum, Juist und Norderney, Baltrum und Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge sind ihre Namen. Insgesamt ist diese Reihe etwa 90 km lang und erstreckt sich von der Mündung der Ems im Westen bis zur Mündung der Jade im Osten. Jede einzelne dieser Inseln hat ihren eigenen Charme. Zusammen bilden die sieben Sandhaufen an dieser Stelle einen Schutzschild für das einzigartige Wattenmeer, das im Sommer 2009 zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt wurde.

Einstimmung auf den diesjährigen Nordseelauf

Mit der Verteilung der Starterbags am Freitagabend nimmt das Abenteuer Nordseelauf 2012 seinen Beginn. Letzte organisatorische Mitteilungen und wertvolle Tipps erzeugen in mir eine kribbelige Spannung. Noch einige Bekannte der Vorjahre begrüssen, Kohlenhydrate auffüllen, Wettkampftasche packen und vorallem den Wecker stellen. Das letzte wird in den kommenden Tagen unser Taktgeber sein… denn weder Bus noch Fähre warten auf «Verpenner».

Samstag, 9. Juni 2012 / Langeoog (1. Tag)

Das Gerangel am Frühstücksbuffet hält sich in Grenzen… kein Wunder, ist es doch noch früh am Morgen. Obwohl trockenes und sonniges Wetter vorausgesagt war, sind die Strassen feucht und eine steife Brise weht uns um die Nase und rüttelt auch die letzten Schlafmützen wach. Na ja, mit dem stürmischen Wind werden wir uns in den nächsten Tagen noch öfters anlegen. Weder die ruhige Fahrt mit der Fähre noch die Inselbahn auf Langeoog bringen uns in eine windstillere Gegend, selbst der uns begleitende Tourpfarrer Hartmut Schneiter scheint nicht den richtigen Draht nach oben gefunden zu haben. Was solls, die Bedingungen sind für alle gleich, wobei die schlankeren Läuferinnen und Läufer bald merken, dass es sich im Windschatten von „stämmigen“ Laufkollegen ein ganz klein wenig besser laufen lässt. Der Gerechtigkeit halber stelle ich mich trotz Wetterkapriolen und Windstärke 7 (50-60 km/h) als Vorläuferin zur Verfügung, werde jedoch freundlicherweise bald wieder nach hinten delegiert. Mein Windschatten nützt offenbar nicht wirklich… Wer die 10 km schnell genug hinter sich bringt, wird vom einsetzenden Regen verschont, hat noch etwas mehr Platz bei den meist engen Duschmöglichkeiten und muss nicht so lange für den Pastateller anstehen. Frisch gestärkt tuckelt uns die Inselbahn gegen Abend zum Fähranleger. Wie immer in den nächsten Tagen: Rückfahrt mit Schiff und Bus, Klamotten auswaschen, Tasche für den nächsten Tag packen, Wecker stellen nicht vergessen!!! Bevor ich den Tag Revue passieren lassen kann, fallen mir die Augen zu. Eine Etappe weniger…

Sonntag, 10. Juni 2012 / Borkum (2. Tag)

Hat mein Wecker einen neuen Klingelton? Nein, denn um 4.30 Uhr ertönt das altbekannt nervige Weckgeräusch und lässt mich das Schlimmste befürchten. Regen, vom Sturm gepeitscht, prasselt an die Fensterscheibe. Also doch richtig gehört, dass etwas nicht stimmt. Damit ist nicht etwa die Uhrzeit gemeint, denn ab 5 Uhr (!!!) ist Frühstück. Heute ist der Tag, an dem wir 14 Stunden unterwegs sein werden, um nicht mal ganz eine Stunde zu rennen. Dies ist zwar ein Verhältnisblödsinn, aber es ist der Ebbe und Flut wegen nicht anders zu lösen… die Nordsee wirkt ja zum Glück beruhigend. Auf der 4 ½ stündigen Überfahrt erfahren wir vom RWE-Personalchef, der neben uns sitzt, einiges über die neueste Google-Serverstation und die zahlreichen Windparks an denen wir vorbeifahren. RWE zählt zu den fünf führenden Strom- und Gasanbietern in Europa und hat ca. 72’000 Mitarbeitende. Auf der Insel fallen uns sofort die seitwärts fliegenden Möwen auf. Dem Phänomen kommen wir rasch auf die Spur, zerrt doch der Wind mit Stärke 8 (60-75 km/h) an uns und schiebt uns auf Wege, wo wir eigentlich gar nicht hinwollen. Wikipedia erklärt: «Windstärke 8», grosse Bäume werden bewegt, Fensterläden werden geöffnet, Zweige brechen von Bäumen, beim Gehen erhebliche Behinderung. Wenn das nicht leicht untertrieben ist… Der erneute Sturm wird kompensiert mit einem wunderschönen Lauf durch Dünen und Wälder, vorbei am Flughafen – auch dort stehen die Fahnen stramm – und über die Geleise der Inselbahn. Beschaulich teilen sich die Möwen mit den Kaninchensippen die weiten Felder und wundern sich über die Läuferschar, die sich wie eine Ameisenkolonie über die Insel bewegt.

Montag, 11. Juni 2012 / Spiekeroog (3. Tag)

Erste gute Nachricht: Ausschlafen, d.h. Frühstück erst um 6 Uhr. Da wir bereits um 9.15 Uhr auf der Insel Spiekeroog sind, hätten wir theoretisch genügend Zeit um gemütlich Kaffee zu trinken. Bewusst schreibe ich «hätten wir»… denn die zwei Cafés und das Restaurant öffnen doch tatsächlich erst um 11.30 Uhr oder noch später. Also fläzen wir uns auf die sandige Wiese und harren der Dinge, die uns noch erwarten werden. Zweite gute Nachricht: Sonnenschein pur. Der mir aus den Vorjahren bekannte, zweimal zu durchlaufende Rundkurs von 6 km führt links/rechts/rauf/runter durch schönste karge Dünenlandschaft. Fragt mich doch nach dem Zieldurchlauf ein Läuferkollege: «Hat Dir diese Bergtour auch so gefallen?» Wahrscheinlich habe ich ziemlich doof aus meinen Kleidern geschaut. Bergtour, bin ich falsch gelaufen??? Die Dünen sind doch gerade mal 3-4 Meter hoch… aber für die nordischen Flachländer ist dies natürlich schon Mittelgebirge. Eine besondere Attraktion auf Spiekeroog und eines der letzten romantischen Verkehrsmittel unserer Zeit ist die Pferdebahn, die einzige Eisenbahn Deutschlands, die noch von Pferden gezogen wird.

Dienstag, 12. Juni 2012 / Wangerooge (4. Tag)

Heute scheinen Hans-Jürg und ich Glück zu haben. Die erste Fähre ist bereits voll und so wird auf die Schnelle ein kleineres Ausflugsboot organisiert, damit die restliche Läuferschar ebenfalls auf Wangerooge starten kann. Da wir zeitmässig gut unterwegs sind, dreht der Kapitän extra für uns eine Zusatzschlaufe um eine Seehundbank und verrät noch einiges über deren Leben: so werden sie etwa 35-40 Jahre alt, ca. 90 kg schwer und fressen täglich gegen 5 kg Fisch. Die Population im Wattenmeer beträgt zur Zeit gegen 6’000 Tiere. Da die Jungen im Juni geboren werden, liegen tatsächlich einige Nachwuchsexemplare faul auf der Sandbank und lassen sich durch uns nicht stören. Auch der heutige Lauf führt teils durch Dünen, wobei die Kaninchen fiese Löcher in die Naturwege gegraben haben und uns so zu grösster Aufmerksamkeit zwingen. Die anschliessende Dusche im Erlebnisbad wird wirklich zum Erlebnis der besonderen Art, denn es verdient seinen Namen zu Recht. Auch bei meinem dritten Aufenthalt an der Nordsee komme ich mit diesen Schwimmbädern nicht klar, sind und bleiben doch die Garderoben für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich folge brav den Hinweisschildern «Sammelumkleide Damen», entledige mich meiner miefenden Laufbekleidung, öffne die Türe Richtung Dusche… und stehe inmitten einer Männerschar, natürlich ebenfalls alle nackt. Erstaunte und belustigte Blicke auf beiden Seiten mit dem stummen Einverständnis: «uns störts nicht, wenn die Damen bei uns duschen». Zurück kämpfe ich mich durch etwa 80-90 Männer, die darauf warten, eine der sechs zur Verfügung stehenden Duschen benutzen zu können. Ein besonderes Highlight erwartet uns am Bahnhof, denn dort spielt der Inselpfarrer fetzige Jazzmusik auf seinem Saxophon um uns zu verabschieden. Mit kräftigem Applaus und der Musik in den Ohren fahren Richtung Hafen zum Einschiffen.

Mittwoch, 13. Juni 2012 / Baltrum (5. Tag)

Gemäss Usanz der letzten Jahre wäre heute ein Pausentag, aber die deutsche Effizienz duldet keine Erholung und so stehen 10 km auf dem Tagesprogramm. Auf Baltrum erklären sich die Bewohner den Namen damit, dass man zu Fuss auf der 6.5 km2 kleinen Insel «bald rum» sei. Der zweimal zu laufende Rundkurs geht über Plattenwege, Sandabschnitte und Dünen-Singletrails, die vorwiegend bei den Kaninchen sehr populär sind und durch sie um einige Zusatzlöcher erweitert wurden. Wo laufen sie denn hin und warum so schnell?, mag sich das eine oder andere Kaninchen gefragt haben. Unsere Streckenmarkierer haben sich alle Mühe gegeben und – wo möglich – die verfänglichen Mulden farbig gekennzeichnet. Trotzdem ist äusserste Vorsicht angebracht, könnte dies doch sonst ein richtiger Knochenbrecherparcours werden. Viel Spass machen mir die Jungs bei den Streckenposten. Ihre Kommentare sind echt Klasse und entlocken mir ein Schmunzeln: «Aufpassen… Startnummer 68 kommt… Hans-Jürg aus der Schweiz!… lauf schneller, wir wollen auch mal Feierabend!!!» oder «Nummer 219… Monika… Du kannst es besser, die Rennschnecke vor Dir überholst Du doch…» Die Toporganisation der Veranstaltung zeichnet sich auch hier durch umsichtige Streckenplanung aus, denn einige Sandpisten wurden mit Heu bedeckt, was jedoch den Kraftaufwand nicht wirklich verminderte.

Donnerstag, 14. Juni 2012 / Juist (6. Tag)

Langsam beginne ich zu zählen, wie viele Etappen noch vor mir liegen. Meine Kondition schwächelt, aber noch habe ich keine Beschwerden. Einige sind mit farbigen Tapes markiert, haben Blasenpflaster an den Füssen, Knieschoner oder einen «eiernden» Gang der schmerzende Muskeln vermuten lässt. Mal schauen, was der Tag bringt. Die erste Überraschung verkündet Speaker Dominik: heute heiraten zwei Teilnehmer des Nordseelaufs, wer Zeit hat, soll sich beim Standesamt einfinden. Begrüsst wird das Hochzeitspaar mit unserem obligatorischen Song «An der Nordseeküste, am plattdeutschen Strand…». Ach ja, der Lauf… Das kurze steile Strassenstück geht auf die Kurpromenade hoch, runter über Holzbohlen, ca. 200 m durch weichen Sand an die Wasserkante und von dort zuerst Richtung Osten und nach einer Spitzkehre wieder nach Westen. So sehen wir mindestens einmal die schnellsten Läufer von vorne. Das Knirschen der unter meinen Füssen zerberstenden Muscheln wirkt wie ein monotones Mantra, das noch 9.5 km anhalten muss. Die letzten Meter kämpfe ich mich wieder durch den tiefen Sand auf die Promenade hoch und geniesse den abfallenden Schlussspurt am Kurhaus vorbei ins Ziel. Geschafft! Weshalb wird wohl die Insel Juist «Töwerland» (=Zauberland) genannt? Verzaubert bin ich nicht, nur todmüde.

Freitag, 15. Juni 2012 / Norderney (7. Tag)

Starker Wind empfängt uns beim Verlassen des Schiffes. Leider haben es die Organisatoren verpasst, uns windgeschützte Umkleidemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. So frieren wir und können uns nur im Hafenbereich umziehen, denn unser Fährschiff ist schon wieder Richtung Festland unterwegs. Der aufziehende Regen lässt meine Moral in den Keller sinken, zumal die Strecke für mich auch nicht wirklich abwechslungsreich zu werden verspricht. Betonierte Hafenmole und kilometerlanger Plattenweg auf dem Deich mit sattem Seitenwind, Dünen und zum Schluss nochmals windgepeitschte Strandpromenade. Bei seitlichem Wind funktioniert das Windschattenlaufen übrigens nicht, wie wir bald feststellen. Kurz nach Zielankunft beginnt es richtig heftig zu regnen, und so ziehe ich mit Pastateller und weiteren Läufern ins Kurhaus. Ein Musikorchester versucht vergeblich unseren Geräuschpegel zu übertönen, was in Anbetracht von etwa 600 Personen ein aussichtsloses Unterfangen ist. Auf der Schiffsrückfahrt ist es ungewohnt ruhig, die täglichen Etappen von 10-12 km scheinen ihren Tribut zu fordern und der meist starke Wind ist ein zusätzlicher Ressourcenfresser. Heute Abend wechseln wir die Unterkunft und werden mit Bussen nach Cuxhaven gebracht. Während der 4stündigen Fahrt schäkert Hans-Jürg mit einigen Mädels und vertreibt sich so die Zeit. Alte Erinnerungen werden wachgerufen und Adressen ausgetauscht. Ich will einfach nur dösen und in Ruhe gelassen werden. Meine Gedanken beginnen im Halbschlaf zu kreisen und werfen Fragen auf: was mache ich eigentlich hier? Was tue ich mir freiwillig an, muss ich die Quälerei wirklich haben? Bevor ich mir die Antworten geben kann ist da ein letzter Geistesblitz: morgen ist die Schlussetappe, 12.2 km durchs Watt von der Insel Neuwerk nach Cuxhaven. Hoffentlich bei besserem Wetter.

Samstag, 16. Juni 2012 / Neuwerk-Cuxhaven (8. Tag)

So etwas wie ausschlafen… Tagwache um 7.30 Uhr… ein leckeres Frühstücksbuffet, das wir leider aus Zeitmangel (noch) nicht richtig auskosten können… aber morgen ist alles anders!!! Das Wetter ist bewölkt, sonnig, regnerisch – auch auf der Insel Neuwerk. Tatsächlich zieht am Nachmittag ein Gewitter durch, was bei einigen Damen für Unbehagen sorgt. Das übliche Prozedere dieser Schlussetappe nimmt seinen Lauf: Pferde vor die Wattwagen spannen, Sporttaschen für den Rücktransport aufladen und ein weiteres Mal ist Warten angesagt, bis der Wattranger (auch Wattsheriff genannt) die Strecke freigibt. Sollte dies aufgrund des erneut aufziehenden Gewitters nicht erfolgen, bleibt uns nur die Übernachtung im Strohlager. Ui, ui, ui, das würde aber eng werden: 911 Teilnehmer, das Organisatorenteam und einige Familienangehörige in 1 Scheune. Nach dramatischen und bangen Minuten wird der Start zwischen zwei Gewitterzellen freigegeben. Läufer, Walker und Nordic Walker – sonst mit zeitversetztem Start – stürzen gleichzeitig in die Fluten. Tatsache ist, dass einige Teilnehmer speziell für diese matschigen 12.2 km von weit her anreisen, um das Ziel als paniertes Schlammindividuum zu durchlaufen. Die letzten 500 m sind nämlich glitschiger tiefer Schlick, gefolgt von 100 m losem Sand. Auf die Läufer mit Hotel in Zielnähe wartet eine wohlig warme Dusche, wohingegen es für die anderen in den offiziellen Umkleidemöglichkeiten ausschliesslich kaltes Wasser gibt. Brrrr! Mein Nordseelauf 2012 endet um 18.04 Uhr mit dem Überqueren der Ziellinie. Glücklich, diese Herausforderung angenommen und auch geschafft zu haben, gönnen wir uns in Ruhe ein leckeres Essen und träumen von den kommenden Urlaubstagen, wo uns kein Wecker aus dem Schlaf holt.

Und was bleibt?

Viele tolle Erinnerungen, obwohl das eine oder andere Mal mit dem inneren Schweinehund gekämpft werden musste. Eindrückliche, unvergessliche flache Landschaften, wo man am Freitag schon sieht wer am Sonntag zu Besuch kommt. Ein perfekt organisierter Wettkampf mit familiärem Charakter und überall ausgesprochen freundliche Helfer, Verpflegungs- und Streckenposten. Aktive Urlaubstage, wo man jede Insel laufend erkundet nach dem Motto «sightseeing by feet». Die Erkenntnis, dass sich die Strapazen gelohnt haben und alles doch nicht so schlimm war, wie zuerst befürchtet.
And last but not least: wir waren willkommen in der Freiheit der Nordsee.

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